Fluchtberichte


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Dobroch


Siegfried
Rosteck

Rudi
Schmidt




Die Flucht der Familie Rosteck vor den Russen aus Ostpreußen in den Westen

Von Siegfried Rosteck, geboren 1931 in Drengfurt als Sohn des Elektromeisters Willy Rosteck


Heute ist der 21.01.90, und ich möchte meiner Familie unseren Fluchtweg von Ostpreußen nach dem Westen beschreiben. Vor 45 Jahren, auf den Tag genau, begann alles.

von links: Siegfried, Gisela, Klaus, Inge und Gertrud Rosteck 1944

Wir - meine Mutter, Schwester Inge, Schwester Gisela, Bruder Klaus und ich sowie unsere Hausangestellte Anna und Frau Natscheyka - befanden uns in der Nacht vom 20. zum 21.01.45 in tiefem Schlaf, als es laut wurde bei uns im Haus. Wir waren sofort wach und hörten russische Stimmen. Unsere Mutter reagierte schnell und telefonierte mit der Standortkommandantur in Drengfurt, die sofort einen Stoßtrupp zu uns schickte. Die Russen (es handelte sich um einen Spähtrupp) waren aber schon von unserer Einquartierung verscheucht worden. Nun konnten wir nicht mehr hierbleiben. Unsere Mutter beschloß, daß wir flüchten.

Wir hatten unser Auto in der Garage stehen, voll gepackt und voll getankt. Frau Natscheyka war schon lange von unserem Vater, der an der Front war, damit beauftragt, uns mit diesem Auto aus der Gefahrenzone zu bringen. Aber wie der Teufel es wollte - oder war es Sabotage? - die Kupplung war kaputt. Wir sind dann mit einem Wehrmachtsfahrzeug nach Rastenburg gefahren, ohne Frau Natscheyka, die es vorzog, mit ihrem Wehrmachtsfreund zu fliehen.

In Rastenburg bekamen wir noch den letzten Güterzug mit offenen Waggons, nach diesem Zug kam nichts mehr. Wir fuhren Richtung Korschen. Es waren nur wenige Kilometer, aber wir brauchten 2 1/2 Tage dafür. Es war sehr kalt, bis zu 26 Grad minus. Auf dieser Strecke waren schon die ersten Toten zu beklagen. Alte Menschen und kleine Kinder, die diese Kälte und Strapazen nicht aushielten, lagen am Bahndamm im Schnee. Endlich in Korschen angekommen, mußten wir den Zug verlassen, da er nicht mehr weiter konnte. Wir sind dann 2 Tage dort geblieben. Inzwischen hatten die Russen Drengfurt besetzt und rückten weiter nach Korschen vor, und so mußten wir wieder weiter. Ich organisierte einen Handwagen, worin wir unsere Habseligkeiten und Brüderchen Klaus und Schwester Gisela verfrachteten.

So zogen wir also los Richtung Bartenstein. Die Straße war ziemlich leer, ohne Trecks. Es fuhren nur wenige Wehrmachtslastwagen an uns vorbei. Dies hatte einen Grund: Wir waren die letzten, nach uns kamen die Russen. Wir hatten aber trotzdem Glück und wurden von einem Wehrmachtslastwagen mitgenommen, der noch versucht hatte, Brot an die Front zu bringen, die gar nicht mehr vorhanden war. Wir kamen bis kurz vor Bartenstein, wo wir in einem Gehöft, das schon verlassen war, übernachteten. Am selben Tag war auch Korschen in die Hand der Russen gefallen. Wir mußten den Handwagen mit einem Schlitten vertauschen, da es mit dem Handwagen nicht mehr möglich war, in dem hohen Schnee und auf spiegelglatten Straßen schnell voranzukommen. In Bartenstein war alles mit Trecks überfüllt, und so zogen wir weiter in Richtung Heilsberg.

Alle unsere Erlebnisse kann ich nicht ausführlich beschreiben, es würde sonst ein dickes, unglaubwürdiges Buch werden, also halte ich mich kurz und werde nur über die einzelnen Stationen unseres Weges nach dem Westen berichten.

Von Heilsberg zogen wir nach Wormdit. Wir wollten über Elbing ins Reich, aber die Russen waren schneller, und wir mußten nach Norden in Richtung Mehlsack ausweichen. Wir hatten gehört, daß es einen Fluchtweg über das Haff gab und hatten nur noch ein Ziel: so schnell wie nur möglich dort anzukommen. Wir haben nach langem Marsch über Heiligenbeil Rosenberg am Haff erreicht und fanden dort einen OT-Mann mit Panjewagen und Pferd, der uns aufsteigen ließ und uns über das Haff mitnahm. Es war grausam, was wir dort erlebt haben, und ich möchte meine Familie nicht damit belasten.



Heute ist der 11.01.2000, und ich möchte wieder etwas schreiben. Die Jahre sind vergangen, und ich habe meine Meinung geändert. Warum soll die Welt nichts von den Grausamkeiten der Russen erfahren, wir werden ja auch täglich von den Grausamkeiten, die wir Deutschen verübt haben sollen, unterrichtet. Nun aber weiter mit meinem Bericht:

Wir saßen also auf dem Panjewagen und fuhren auf das Eis. Die Wehrmacht hatte die Löcher im Eis mit Tannengrün markiert, um so zu verhindern, daß die Wagen ins Wasser rutschten, aber es sind viele Wagen ins Eis eingebrochen. Die armen Pferde, man konnte ihnen nicht helfen. Es ist schrecklich zu hören, wenn ein Tier schreit. Aber wir mußten da durch. Mittlerweile stand schon 30 bis 40 cm Wasser auf dem Eis, und das Eis war durch die vielen Bomben der Russen brüchig geworden. Die Menschen, die noch laufen konnten, mußten von den Wagen runter ins kalte Wasser und laufen, damit die Wagen leichter wurden. Als wir rüber waren und dachten, wir sind in Sicherheit, kam die große Enttäuschung: Wir konnten nicht auf die Nehrung kommen, da dort die einzige Straße von Treckwagen und Wehrmachtfahrzeugen verstopft war. Wir mußten also wieder auf das Eis und längs der Nehrung fahren. Auf dieser Fahrt sind wir noch mehrmals von Fliegern angegriffen und beschossen worden. Es gab sehr viele Tote, Menschen, aber auch Pferde. Ich habe nach 50 Jahren noch das Schreien und Weinen der Pferde in den Ohren. Man glaubt ja gar nicht, wie ein Tier in Todesnot schreien kann. Es war jedenfalls grauenvoll für uns Kinder, und wir werden es nicht vergessen.

Nach mehreren Tagen sind wir dann in Kahlberg angekommen und wußten nicht mehr weiter. Wir waren alle erschöpft, ohne Essen und Trinken, es gab ja nichts. In den Geschäften von Kahlberg gab es nichts mehr, sie waren alle geplündert. Wir haben in Kahlberg mehrere Tage gelebt und wußten nicht, wie es weitergeht. Für meine Mutter war es besonders schlimm, denn sie hatte die Verantwortung für ihre 4 Kinder, die essen und trinken wollten.

Die Russen kamen mehrere Male über das Eis, wurden aber von der SS zurückgeschlagen. Ich bin überall rumgelaufen, um etwas Eßbares zu finden und kam so auch zum Hafen, wo ein Schiff eingelaufen war. Aus diesem Schiff wurde Brot ausgeladen für die Wehrmacht. Ich reihte mich in die Schlange der Soldaten ein, und so ging Brot für Brot vom Schiff zum Lastwagen und auch unter meine Jacke. Dabei erfuhr ich auch, daß dieses Schiff am Abend nach Danzig auslaufen sollte. Das war die Gelegenheit, von hier wegzukommen. Wir sind dann alle zum Strand gelaufen, um auf das Schiff zu kommen. Es war aber nicht einfach, da zu viele Menschen mit wollten. Wir haben es aber doch geschafft. Es war ein Minenräumer, das war unser Glück, weil dieses Schiff keinen großen Tiefgang hatte und dadurch ziemlich sicher vor den Torpedos der russischen U-Boote war. Wir sind die ganze Nacht gefahren und waren dann gegen Mittag in Neufahrwasser. Von dort sind wir mit der Reichsbahn nach Schlawe in Pommern gekommen und wurden von den dortigen Bauern nach Jannowitz gebracht. Dort kamen wir in der Schule unter. Mein Bruder Klaus erkrankte schwer an Hirnhautentzündung. Meine Mutter hatte zwar einen Doktor gefunden, der konnte aber unser Brüderchen nicht mehr retten, weil es zu schwach war. So haben wir Klaus in Pommern begraben müssen. Er hatte noch eine richtige Beerdigung mit Sarg und Pastor, auf dem Friedhof in Suko fand er seine letzte Ruhe.

Wir waren alle geschwächt und krank, aber es half nichts. Der Russe rückte weiter vor, und wir waren wieder auf der Flucht. Aber wohin? Meine Mutter hatte gehört, es sollten Schiffe von Stolpmünde nach Dänemark fahren, also ging es in Richtung Stolp und Stolpmünde mitten im Winter los. Es war sehr kalt, und der Schnee lag sehr hoch. Es fuhren schon lange keine Züge mehr. Unsere Mutter konnte nicht mehr laufen, und so mußte wieder ein Schlitten her. Mutter und klein Gisela wurden draufgesetzt, Anna und Inge zogen den Schlitten, bis sie umfielen. So konnten wir aber nicht schnell genug vorankommen. Der Russe war wieder schneller und erwischte uns.

Von da ab begann für uns ein Leben ohne Rechte. Man konnte mit uns machen, was man wollte, und die Sieger nutzten es auch. Es waren aufgehetzte Horden, die nur eins im Sinn hatten: plündern, vergewaltigen und morden. Wenn wir die Russen fragten, wohin wir sollten (es gab auch ein paar gute Russen), sagte man uns: Ihr müßt dahin zurück, woher ihr kommt. Das war ja nun Ostpreußen, für uns aber viel zu weit, und so sagten wir, wir kommen aus Jannewitz. Wir haben noch einige schwere Tage gehabt, wurden dauernd von den Russen und auch von den Polen belästigt, die Frauen für ihre Unterhaltung suchten und mitnahmen, so auch unsere Hausangestellte Anna, von der wir nichts mehr gehört haben. Es war der 11.03.1945.

Mutter und Inge blieben verschont. Mutter hatte sich das ganze Gesicht dreckig eingeschmiert, so daß die Russen sagten: Du deutsches Schwein waschen. Unsere Inge hatte sich unter einem Wagen versteckt und kam auch davon. Ich war viel zu klein, und die Russen sahen in mir keine Gefahr, und so konnte ich mir einiges erlauben, was andere das Leben gekostet hätte. Ich klaute als erstes ein Pferd, das ich einem russischen Offizier aus seiner Kutsche ausspannte und vor den Wagen, unter dem Inge sich versteckt hatte, vorspannte. Der Besitzer des Wagens war glücklich und nahm uns bis Stolp mit. Wir hatten noch einen langen Weg bis Jannewitz. Mutter ging es immer schlechter. Sie konnte mit ihrem entzündlichen Rheuma nicht mehr laufen und wollte, als wir über den Fluß Stolpe kamen, von der Brücke springen und uns Kinder mitnehmen. Wir konnten sie aber mit viel Reden überzeugen, daß wir noch weiterleben wollten. Ich fand einen Rucksack mit einer Seite Speck. Da wir lange nichts in den Mund bekommen hatten außer einer Handvoll Schnee, war der Speck für uns das Richtige. Jeder bekam einen Streifen Speck in den Mund, und so zogen wir gestärkt weiter.

Da Mutter nicht mehr laufen konnte, setzten wir sie zu Gisela auf den Schlitten, Inge und ich zogen los. Der Zustand von Mutter wurde immer schlechter. Alle Gelenke waren angeschwollen und zum Teil auch blutig, es mußten Binden her. Wir kamen durch eine kleine Ortschaft, an einer Schule vorbei. An der Turnhalle war die Rotkreuzflagge angebracht, und ich nichts wie rein. Hätte ich es nur nicht getan! Was ich dort zu sehen bekam, war so schrecklich, daß ich es nie im Leben vergessen kann. Auf einem Haufen Mullbinden lag eine nackte Frau, der man nach einer Vergewaltigung den Bauch aufgeschnitten hatte. Da sie schwanger war, konnte man das Kind erkennen. Ich war so erschrocken, daß ich nur ein paar Binden griff und hinausstürzte. Mit diesen Binden haben wir dann Mutters Beine und Arme verbunden und zogen weiter. Es dauerte noch einige Tage, bis wir in Jannewitz waren. In Jannewitz angekommen, konnten wir nicht mehr in der Schule Unterkunft finden, sie war von den Russen besetzt. Gegenüber bei dem Bauern Marschke war oben eine Wohnung frei. Wir bekamen sie aber nur unter der Bedingung, daß ich die Bombe, die als Blindgänger durch das Dach gefallen war und in der Küche lag, entsorgte. Nichts einfacher als das: Bombe hochgehoben, unter den Arm geklemmt und ins Freie damit. Es hat auch alles geklappt, später habe ich sie dann gesprengt.

Auf dem Acker hinter dem Haus lag der Schnee noch hoch mit vielen merkwürdigen Hügeln, die ich aus Neugierde untersuchen mußte. Ich ging zum ersten Hügel, räumte den Schnee zur Seite und sah einen gefallenen Russen. Alle Hügel auf diesem Acker waren Gefallene, man hatte sie noch nicht beerdigt. Das mußten wir Jungen nachher im Mai tun. Es war eine schlimme Arbeit, es stank fürchterlich, da sie schon zu lange lagen. Da wir nichts im Magen hatten, konnten wir nichts erbrechen, es ging auch vorbei.

Inge wurde eines Nachts von einem Polen und einem Russen aus dem Bett geholt und von dem Russen vergewaltigt, während der Pole bei uns im Zimmer blieb und auf uns aufpaßte, damit wir der Inge nicht helfen konnten. Ich habe fieberhaft überlegt, was ich da machen kann. Eine Pistole hatte ich mir schon lange besorgt, es lag ja genug davon rum, und damit umgehen konnte ich auch. So beschloß ich, den Polen umzulegen und den Russen auch. Es wäre mir auch gelungen, nur kam ich nicht so schnell an die Pistole ran. Der Pole paßte gut auf, wir durften uns nicht bewegen, sonst hätte er gleich geschossen. So konnte ich der Inge nicht helfen.

Nach dieser Nacht haben wir uns fürchterlich kratzen müssen, denn dieser Vergewaltiger von Inge hatte Läuse, Sackratten und die Krätze bei uns gelassen. Es wurde für uns eine schlimme Zeit, es gab ja keine Hilfe. Ich wurde schwerkrank, bekam den ganzen Körper voll Eiterbeulen und Krätze. Wenn Mutter mir ein Hemd anzog, stand es den anderen Tag alleine, so war es voll Eiter. Es gab ja auch keine Seife, und Mutter wusch die Wäsche mit Holzasche. Meine Krankheit wurde immer schlimmer. Eines Tages, Mutter hatte mir 6 dicke Eiterbeulen an der rechten Bauchseite ausgedrückt - die Narben habe ich heute noch -, war ich so geschwächt, daß alle meinten, es geht mit mir zu Ende. Ich hatte aber noch einen Wunsch: ein gekochtes Ei und eine Scheibe Brot wollte ich essen. Meine kleine Schwester Gisela bekam dies mit und war verschwunden. Nach 1 bis 2 Stunden war sie wieder da mit Brot und einem Ei, sie hatte es im Dorf bei Bauern erbettelt. Nachdem ich alles gegessen hatte, schlief ich ein und wachte erst nach 2 Tagen wieder auf. Von da an ging es mir immer besser.

Der Pole, der bei unserem Bauern eingezogen war, wollte Schnaps brennen und brauchte mich dazu, weil es die Russen verboten hatten. Der Pole setzte die Maische aus 2 Zentnern gedämpften Kartoffeln, 10 Pfund Roggenmehl und für 200 RM Hefe an. Meine Aufgabe war es, den Brennkessel zu heizen und ständig den Schnaps zu probieren, ob er sauer schmeckt und noch brennt. Bei jedem Brand gab es 10 Flaschen Schnaps, und wir brannten zweimal in der Woche. Kartoffeln waren ja genug in den Mieten der Bauern. Wenn ich mit dem Brennen fertig war, kamen alle Polen aus dem Dorf und haben den Schnaps gekauft. Zuvor mußte ich aber erst eine kleine Halbliterflasche Schnaps austrinken, das war für mich kleinen Kerl sehr viel, und ich bin danach immer rausgelaufen und habe den Finger in den Hals gesteckt. Die Polen wollten sicher sein, daß der Schnaps nicht vergiftet war. Zu essen gab es bei uns nur Kartoffeln ohne Salz. Wir streuten uns Kunstdung drauf, der salzig war.

Mutter strickte für die Bauern Strümpfe und Pullover, um etwas Roggen zu bekommen, damit sie auch mal ein Brot backen konnte. Für den Polen habe ich eine Kuh und ein Pferd von den Russen geklaut. Wir haben von ihm aber nie Milch oder Butter bekommen. Ich durfte lediglich mit dem Pferd nach Suko zur Mühle fahren, wenn Mutter Roggen verdient hatte. So haben wir uns durchgeschlagen. Inge mußte beim Russen Kühe hüten, Mutter mußte für die Russen waschen, und ich habe die Russen geärgert und für die Polen Schnaps gebrannt. Mutters Rheuma wurde auch etwas besser, weil sie ihre Gelenke mit selbst gebranntem Schnaps einrieb. Meine Pestbeulen wurden langsam besser, nur die Krätze machte uns noch zu schaffen. Mutter hatte mal gehört, daß Teer helfen solle. Also mußten wir Teer suchen und haben auch was gefunden. Jetzt fehlte nur noch Schmalz, aber unsere Mutter fand auch das. Woher sie es bekam, weiß ich bis heute nicht. Es wurde eine Salbe gemischt, und wir haben uns damit eingeschmiert. So bekamen wir auch die Krätze in den Griff.

Dann kam für uns wieder ein Schicksalsschlag: Unsere Inge wurde von den Russen zur Zwangsarbeit verschleppt. Das war eigentlich ihr Todesurteil, aber sie hatte großes Glück und kam nach ein paar Wochen barfuß nach Hause. Sie war nicht nach Rußland gekommen, sondern mußte Schienen und Bahnschwellen in Pommern aufnehmen. Wir waren froh, wieder zusammen zu sein.

So verging die Zeit, das Jahr 1946 kam, und wir überlegten, wie wir unser Leben ändern könnten. Da es hier kein Radio und keine Zeitung gab, wußte man nicht, wie es auf der übrigen Welt aussah. Es wurde nur gesagt, daß es im Westen menschlicher zuginge als bei den Polen und Russen. Eines Tages gab es wieder Strom, und da ich von zu Hause ja viel davon verstand, hatte ich bei den Polen viel zu tun. Ich habe dort einiges repariert, was mir auch einiges an Nahrung einbrachte. So gingen die Tage dahin, und Mutter beschloß, daß wir in den Westen gehen. Wo unser Vater war, wußten wir nicht. Ob er noch lebte?

Am 16.04.1946 war es dann so weit. Wir packten unser Bündel, viel war es ja nicht mehr, und zogen auf Schusters Rappen nach Köslin los. Wir hatten alles geheimgehalten, damit der Pole auf unserem Hof uns nicht daran hindern konnte abzuhauen. Aber wie der Teufel es wollte, überholte er uns mit meinem Pferd und seinem Wagen. Auf diesem Wagen saßen noch mehr Familien aus Jannewitz, die auch nach dem Westen wollten. Er ließ uns aufsteigen und nahm uns bis Köslin mit. So hatten wir mal wieder Glück im Unglück. Mutter hatte an diesem Tag ihren 40. Geburtstag.

In Köslin blieben wir ca. 3 Wochen, bis uns die Engländer mit einem Frachter über die Ostsee nach Pöpendorf bei Lübeck brachten. Auf diesem Frachter hätten wir beinahe unsere Gisela verloren. Diese vorwitzige kleine Kröte kletterte doch am Heck des Frachters auf eine Bank, verlor das Gleichgewicht und wäre über Bord gefallen, wenn ich nicht rechtzeitig zugegriffen hätte. Dabei bin ich mit meinem mit Bindfaden zusammengebundenem Schuh an einem Bolzen hängengeblieben und mit dem rechten Knie auf einen anderen Bolzen aufgeschlagen. Die Narbe habe ich heute noch.

Von Pöpendorf kamen wir mit der Bahn nach Klangsbühl, wo wir vier Wochen blieben. Von dort ging es dann über den Hindenburgdamm auf die Insel Sylt nach Rantum. Jetzt waren wir also im goldenen Westen, und mein Bericht von unserer Flucht endet hiermit.